»Unsere imaginäre Stimme klang laut in der Stille unseres Denkens,
unsere imaginären Gesten waren anmutig und frei. […].
Doch es gelang uns nicht, etwas von der Kraft und der Anmut, die wir dort hatten,
ins wirkliche Leben hineinzutragen.«
Natalia Ginzburg

Liebe Gäste der »Poetische Quellen«,

wer sich in die Welt der Literatur begibt, findet sich schnell Im Wald der Fiktionen wieder, wie Umberto Eco eine Vorlesungsreihe über das Wesen der Literatur und des Lesens als maßgebliche Fähigkeiten für die Deutung der Welt genannt hat. Dabei ist Eco bewusst, »dass wir auf unsere Kenntnis der wirklichen Welt bauen müssen«, um von der Kraft der imaginären literarischen Welten »beeindruckt, verwirrt, verstört oder berührt« sein zu können. Worin besteht aber die Kraft des Imaginären in der Literatur?

Ihre imaginäre Kraft, die über die kalte Logik der Vernunft und der reinen Tatsachenwelt weit hinausführt, beruht darauf, dass sie es den Leserinnen und Lesern erlaubt, Erfahrungen zu machen, ohne dass sie diese Erfahrungen in der Praxis am eigenen Leib empfinden müssen. Aus diesem Grund bezeichnet die polnische Autorin Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede die »Vorstellbarkeit« auch als »die erste Stufe des Seins«.

In diesem Zusammenhang muss man mit dem italienischen Schriftsteller Fabio Stassi feststellen, dass eine der größten Klimaveränderungen unserer Zeit das Verschwinden der Poesie ist, womit Stassi die Entzauberung der Welt durch den Verlust der Imagination meint, denn es ist die Vorstellungskraft, in der sich Sprache der Wahrhaftigkeit der Existenz annähert und nur so imstande ist, Hoffnung zu entfachen und Schönheit überhaupt erst erkennbar werden zu lassen.

In einer Welt, der die Schönheit verloren geht und die im Augenblick immer hässlicher zu werden scheint, um die sich die Menschen immer mehr Sorgen machen, auf die sie mit immer mehr Angst blicken, weil sich der Zusammenhang zwischen dem Leben und einem Lebenssinn immer weiter aufzulösen scheint, lässt sich die der Literatur innewohnenden Kraft und Anmut der Imagination gar nicht hoch genug einschätzen. Nur mit ihr ist es möglich, dass »der Schluss aller Literatur [auch wirklich] Aufschluss [bedeutet]«, wie der Literaturwissenschaftler Peter von Matt es sich erhofft.

Um etwas von diesem Aufschluss, dieser Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns, dieser ständigen Einübung in Empathie, Vertrauen und Freiheit in das wirkliche Leben hineintragen zu können, widmet sich das 24. Internationale Literaturfest »Poetische Quellen 2025« in diesem Jahr dem »imaginären Leben«, denn »wir haben die Literatur als imaginierte Erfahrung, aber was fehlt, ist die Bereitschaft der Gesellschaft, aus dieser Erfahrung zu lernen. Wir vergessen es. Die Literatur verschafft uns die Erfahrung von Neuem – und wir vergessen es wieder. Jedes Mal, wenn wir ein Buch zuschlagen, vergessen wir es. Literatur ist dazu da, uns an das zu erinnern, was wir jedes Mal vergessen«, sagt Alberto Manguel, weil es ohne diese ständige Erinnerung keinen Begriff von Menschlichkeit gäbe.

Michael Scholz
Künstlerische Leitung