»Literatur existiert, seit der Mensch existiert. Literatur war und ist noch immer die Möglichkeit, sich von der dumpfen Identität mit sich selbst, mit dem Gegebenen ein wenig in ein anderes Schicksal zu projizieren, diese Identität zu meiden, zu überwinden. Literatur ist Freiheit.«

Dževad Karahasan

 

Liebe Gäste der Poetische Quellen,

das 22. Internationale Literaturfest Poetische Quellen steht in diesem Jahr unter dem Motto »Es gibt noch eine andere Welt«. Ein Bewusstsein davon scheint dringender denn je zu sein. Schauen Sie sich einmal um und beobachten Sie die Menschen: Wie viele davon gucken nicht mit heruntergebeugtem Kopf auf ihr Handy, wenn sie unterwegs sind? Anders gefragt: Wie viele Menschen schauen andere Menschen noch an, wenn sie aneinander vorbeigehen? Wie viele Menschen schauen die Bäume, die Vögel oder mit offenem Blick den Himmel an, wenn sie durch einen Park gehen? Lässt überhaupt noch jemand den Blick in die weite Welt schweifen oder in das unendliche Blau über einen? Ist Interesse nicht immer eine Form des Mögens?

Was für ein Verlust an Menschlichkeit und Imaginationskraft es wäre, diese Zeit und Raum verbindende Art in die Welt zu schauen, zu verlieren! Nicht zuletzt deshalb brauchen wir Bücher, brauchen wir Literatur: Sie ist, wie es der kanadische Schriftsteller Alberto Manguel ausdrückt, ein notwendiges »Fenster zur Welt«, nicht weil sie die Wirklichkeit abbildet, sondern weil sie uns durch ihre Sprache ein »Vokabular« anbietet, mit dem sie uns in die Lage versetzt, die mutmaßliche Wirklichkeit besser zu lesen, bessere Fragen an uns und die Welt zu stellen. Aus diesem Grund sind literarische Werke vor allem eines: Sie sind vermittelnde Zugaben zu der uns umgebenden Wirklichkeit.

Nur wenn die Leser bereit sind, diese Zugabe anzunehmen, beginnt die Möglichkeit Raum zu greifen, dass sich die Welt für sie erweitert und damit auch ihren Blick für andere Welten, andere Lebensformen und Denkweisen öffnet. Die Verheißung von Literatur liegt dabei in ihrer Sprache, denn »die Wörter bestätigen unsere Existenz, unsere Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen«, so Manguel.

In seinem großartigen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht schrieb Italo Calvino: »Lesen ist auf etwas zugehen, das gerade entsteht und von dem keiner weiß, was es sein wird …« Wenn man das »s« in Lesen durch ein »b« ersetzt, wird erkennbar, wie sehr die Welt der Literatur mit dem Leben in der wirklichen Welt verbunden ist. Ein Buch zu lesen, heißt, sich mit erwartungsfroher Neugier einem Raum des Unbekannten zu öffnen, sich auf etwas Ungewisses, eben auf eine andere Welt einzulassen. Das macht Freiheit aus, im Denken und im Leben. Gerade wer verstehen will, der sollte lesen – und zwar Literatur, denn diese fordert uns auf, die Welt und das Leben zu berühren.

Die Poetischen Quellen vertrauen fest auf die Zukunft der Literatur, weil sie ganz im Sinne von Italo Calvino auf dem Wissen aufbauen, »dass es Dinge gibt, die einzig die Literatur mit ihren spezifischen Mitteln zu geben vermag.« Dieses Geschenk möchten wir auch in der 22. Ausgabe des Internationalen Literaturfestes mit Ihnen teilen.

Michael Scholz
Künstlerische Leitung