»Für mich ist das, worauf es in der Welt ankommt,
nicht die Uniformität, sondern die Existenz von Unterschieden; …«
Italo Calvino
Liebe Gäste der „Poetische Quellen“,
das 23. Internationale Literaturfest „Poetische Quellen“ findet in diesem Jahr unter dem Titel »Auf, Gedanke, mit goldenen Flügeln: Italien – unendliches Erzählen« statt. Im Mittelpunkt steht das Literaturland Italien, dessen aktuelle politische Entwicklung nicht nur vielen Italienliebhabern, sondern auch demokratischen Politikern Bauchschmerzen bereitet. Die Querelen um den Auftritt Italiens bei der kommenden Frankfurter Buchmesse, dessen Ehrengastland Italien nach 36 Jahren ein zweites Mal ist, verdeutlichen die tiefe Kluft zwischen einem Großteil der kulturellen Akteure des Landes und einer rechtspopulistischen Regierung, deren größte Partei, Fratelli d`Italia, es nicht schafft, sich eindeutig von dem Faschismus des ehemaligen „Duce“ Mussolini loszusagen.
Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den gegenwärtigen politischen Zustand der Europäischen Union insgesamt kann man nur immer wieder darauf hinweisen, dass Bildung und Kultur sowie das wichtige Element des kulturellen Austauschs das wirksamste Gegengift gegen die Zunahme populistischer, autokratischer und antisemitischer Tendenzen darstellen. Der Literatur kommt hier eine besondere und widerständige Bedeutung zu, die der verstorbene italienischen Schriftsteller Antonio Tabucchi so formuliert: »Literatur ist im Wesentlichen dies: eine andere Vision von der Welt als die, die vom vorherrschenden Denken aufgezwungen wird, …«
Indem sie »eine Art zweite Wirklichkeit« (Roberto Calasso) schafft, bietet Literatur Alternativen des Denkens, des Einfühlens und auch des Empfindens an, die auf die Widersprüchlichkeiten in der menschlichen Existenz hinweisen. Sie bringt diese Widersprüchlichkeiten mit ihren einzigartigen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck und formuliert die Zerrissenheit und zunehmende Entfremdung unseres Lebens, die durch Lügen, Fake News und dystopische Zukunftsszenarien verstärkt werden. Eben weil sie den Menschen demgegenüber eine Sprache gibt, ihnen eine neue Erzählung schenkt, kann Literatur immer wieder ein grundlegendes Prinzip unseres Lebens entfachen: Sie kann Hoffnung stärken.
Die „Poetischen Quellen“ wollen dieses Hoffnungsprinzip mitverbreiten und mit Blick auf das Anfangszitat von Italo Calvino zu einem Fest für eine Kultur und eine Gesellschaft einladen, in der Andersartigkeiten keine Ängste mehr wecken, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden. Deren wichtigstes Fundament stellt immer noch eine sorgfältige und in ihrer ganzen Vielfalt genutzten Sprache dar, die, je besser wir sie beherrschen, uns umso mehr in die Lage versetzt, unsere Vorstellungskraft und damit unsere Zukunftsfähigkeit zu entfachen. Lassen Sie also Ihre Gedanken auf goldenen Flügeln in die Welt der Literatur aufbrechen, die sie nicht nur mit voller Überzeugung des italienischen Verlegers Roberto Calasso dazu bringt, »durch das, was nie zuvor gehört wurde, zu sehen, was man sonst nicht sehen würde.«
Michael Scholz
Künstlerische Leitung