Tanja Maljartschuk
Bücher u.a.: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus [2022; Essay], Blauwal der Erinnerung [2019; Roman]
(Das Tischgespräch Ii: Sonntag, 27. August 2023 / Beginn: 16.30 Uhr )
Ob die Geschichte aus Zufälligkeiten besteht, lässt sich nicht belegen. Tatsache ist, dass die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk nach 2014 zum zweiten Mal zu Gast bei den Poetischen Quellen ist und schon wieder befindet sich ihr Geburtsland, die Ukraine, in einem Verteidigungskrieg gegen Russland. 2014 schien es nur um die Halbinsel der Krim zu gehen, jetzt kämpft die Ukraine um das Überleben als unabhängiger Staat. Eine Situation, die Schriftstellern die grausame Wirklichkeit geradezu aufzwingt und sie tagtäglich zu einem Umgang damit auffordert, aus einem Land zu stammen, dessen Existenzrecht von einem übermächtigen Angreifer verneint wird. Maljartschuk beschreibt die Zeit zwischen der Besetzung der Krim 2014 und dem Anfang des derzeitigen Krieges am 24. Februar 2022 als eine Zwischenkriegszeit und beruft sich dabei in einem ihrer Essays, aus dem auch der Buchtitel Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus stammt, auf die Literatur des von ihr geschätzten Juri Andruchowytsch, der bereits in seinem ersten Roman 1992 die Ahnung der kommenden Katastrophen habe aufscheinen lassen.
Tanja Maljartschuk, die 1983 wie Andruchowytsch in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk geboren wurde, wanderte 2011 nach Wien aus. 2018 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Inzwischen ist sie zu einer der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen ukrainischen Literatur geworden, deren Schreiben sich aber in den vergangenen Jahren verändert hat: Über 30 Jahre habe sie hauptsächlich Geschichten aus der Gegenwart erzählt, über Menschen am Rande der Gesellschaft, erzählt Maljartschuk, »erst danach begann ich, mich tatsächlich für dieses seltsame Land zu interessieren, in dem ich aufgewachsen bin«. So entstand ihr Roman Blauwal der Erinnerung, der im Original den Titel Vergessenheit trägt, in dem die Identitätssuche der Ich-Erzählerin auf großartige Weise mit der Geschichte des vergessenen polnisch-ukrainischen Historikers und Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj und der Frage nach der Identität der Ukraine verknüpft wird. Zu ihrer eigenen Identität sagt Maljartschuk: »Ich habe mich immer als freiwillige Weltbürgerin mit ukrainischen Wurzeln betrachtet. Heute befinden sich diese Wurzeln in Flammen. Ich kann mich vor dem Schmerz nirgendwo auf der Erde verstecken. […] Die Aufgabe von uns Schriftstellern und Intellektuellen ist daher, wenn die Zeit kommt, das Verdrängte ans Tageslicht zu holen.«
»Diese Essays sind ein Geschenk: Sie öffnen ein Fenster zum Verständnis des Unvorstellbaren, das gerade in der Ukraine geschieht. Ergreifend und analytisch messerscharf führt […] Tanja Maljartschuk vor, was die kriegerische Expansionspolitik Russlands mit einem Land und seinen Menschen anrichtet. Und das nicht erst seit 2022, sondern seit über einem Jahrzehnt.«
[Maljartschuks Verlag Kiepenheuer & Witsch über ihren jüngsten Essayband]

Maria Svidryk