Susan Neiman
Bücher u.a.: Links ≠ woke [2023]; Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können [2020]; Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten [2010].
(Das Sonntagsgespräch – Forum für Demokratie / Sonntag, 27. August 2023 / Beginn: 11.30 Uhr / Einlass: 10.30 Uhr)
»Ich bin dennoch nicht bereit, das Wort „links“ aufzugeben oder mich der Meinung anzuschließen, man sei entweder woke oder reaktionär. Stattdessen möchte ich untersuchen, wie die selbsternannte Linke von heute Kerngedanken hat fallenlassen, an denen jeder Linke festhalten sollte.«
[Susan Neiman, Links ≠ woke]
Ende Mai führte Susan Neiman ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit dem Wissenschaftsphilosophen Maarten Boudry über ihr gerade im englischen Original erschienenes Buch Left is not woke, das in der deutschen Übersetzung kurz vor den Poetischen Quellen veröffentlicht wird. Darin erklärt sie, dass es ihr dringend und notwendig erschien, dieses Buch genau jetzt zu veröffentlichen, da sie der Aufstieg der „Woke-Ideologie“ so sehr beunruhige, dass sie dafür extra eine andere, größere Arbeit zur Seite gelegt habe.
Neiman geht es dabei um nichts Geringeres als die Rettung der Aufklärung mit ihrem Universalismus und ihren Glauben an den Fortschritt und die Gerechtigkeit, der leider immer häufiger auch von Intellektuellen wie Aktivisten, die sich fälschlicherweise als „links“ bezeichneten, infrage gestellt werde. »Wir müssen zurück zu einem universalistischen Diskurs bei gleichzeitiger Anerkennung aller Unterschiede«, sagt sie und führt in ihrem Buch viele Beispiele dafür an, wie gerade die Denker der Aufklärung, die heute unter Rassismus- und Kolonialismusverdacht stünden, diejenigen gewesen seien, »welche die Kritik am Eurozentrismus erfanden und den Kolonialismus als Erste verurteilten – und dies taten sie auf der Grundlage universalistischer Ideen.« Das Verrückte an der Identitätspolitik sei, dass sie die Menschen, die so vieles gemeinsam hätten, auf zwei Aspekte ihrer Identität reduziere: auf »die Zugehörigkeit zu einer Ethnie und zu einem Geschlecht.« Mit Blick auf die Übersetzungsdiskussionen beim Werk der amerikanischen Dichterin Amanda Gorman meint Neiman, dass allein die Vorstellung, man könne nur über ein Thema schreiben, »wenn man die ethnische und geschlechtliche Identität des Themas hat«, die Macht der Kultur untergrabe und verneine und was »als Empathie begann, […] geradezu ins Krankhafte« umschlage. Woke, schreibt sie weiter, sei »vielfach zur Symbolpolitik geworden, anstatt sozialen Wandel einzuleiten.«
Neiman, 1955 in Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia geboren, entstammt einem liberalen jüdischen Elternhaus und besitzt auch die israelische Staatsbürgerschaft. Zu ihren intellektuellen Leitfiguren zählt sie neben Immanuel Kant auch Hannah Arendt und Jean Àmery. Seit 2001 ist Susan Neiman Direktorin des Einstein Forums in Potsdam und lebt in Berlin.

Bettina Volke