Paolo Rumiz

[Schriftsteller, Publizist]

(Freitag, 23. August 2024 / Poetische Quellen in der Innenstadt von Bad Oeynhausen / Colon-Sültemeyer-Brunnen / Beginn: 15.00 Uhr / Eintritt frei!)

Bücher u.a.: Europa. Ein Gesang [2023], Der unendliche Faden [2020]

»Armes Europa, letzte Bastion der Menschenrechte, der Regeln und der Sicherheiten. Ich erkenne dich nicht mehr wieder, so schwach und verwirrt, wie du bist. […] Europa, wo hast du dich verborgen, …«
[Paolo Rumiz, Europa. Ein Gesang]

Der 1947 in Triest geborene Paolo Rumiz ist ein Star in Italien. Der erfolgreiche Reiseschriftsteller wird hier in einer Reihe mit den international bekannten literarischen Reiseschriftstellern wie Bruce Chatwin, Cees Nooteboom, Tiziano Terzani oder Ryszard Kapuściński genannt. Seine Veranstaltungen sind stets überfüllt.

Bekannt wurde Rumiz durch seine Berichterstattungen und Reportagen über den Afghanistan- und den Jugoslawien-Krieg, die in der großen überregionalen italienischen Tageszeitung La Repubblica erschienen. Für sein Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet. Seine Bücher erzählen von seinen Reisen, die ihn nicht nur entlang der östlichen EU-Außengrenzen und an die Schauplätze des zerfallenden Jugoslawien führten, sondern auch an die Quellen Italiens: So befuhr er mit Kanu, Fischkutter und Segelboot den Po, den größten Fluss Italien, von der Quelle in den Voralpen des Piemont bis zur Mündung im Adriatischen Meer und entdeckt für seine Leser ein unbekanntes Italien. Eine weitere Reisereportage führte ihn über die Via Appia, die alte Römerstraße zwischen Rom und Brindisi. 2015 sorgte Rumiz damit für derart viel Aufsehen, dass der damalige Kulturminister zwanzig Millionen Euro bereitstellte, um die von Rumiz eindringlich geschilderten Zerstörungen und Verunstaltungen durch illegale Bauten und Asphalt zu beseitigen.

Die Bücher von Rumiz stehen fast durchgehend auf den italienischen Bestsellerlisten.

„Dass er aus Triest stammt, ist keine bloße biografische Notiz, sondern ein wesentliches Charaktermerkmal“, schrieb die Publizistin Rita Zampolini 2022 nach einem Gespräch mit Paolo Rumiz. Er erinnere uns daran, dass, so Rumiz im Wortlaut, „jemand, der in Triest geboren ist, von Kindheit an daran gewöhnt ist, die Komplexität des Ortes und seine kulturelle Vielfalt zu lesen“. Geboren zu werden, in diesem Grenzland aufzuwachsen, sich ständig an dieser Grenze zu messen, sich an die Komplexität zu gewöhnen – in einer Zeit, in der die Vereinfachung mit ihrer Bequemlichkeit unseren Verstand durchdringt, Gefühle und Emotionen unterdrückt und Interaktionen reduziert, dadurch werde eine solche Lebensweise zu einem noch wertvolleren Gut, so Rumiz. Seine Leidenschaft für Europa hängt also eng mit seinen Wurzeln zusammen, die in dieser Stadt liegen. Triest war uns ist eine europäische Stadt, eine Stadt der ethnischen Verschmelzung, der Vielsprachigkeit, der Zuwanderung, nicht zuletzt eine Stadt mit einer großen literarischen Tradition. All dies macht Triest geradezu zu einem Synonym für ein modernes, offenes, wissbegieriges und kulturell vielgestaltiges Europa.

Genau dieses Europa scheint in die Gefahr zu geraten, unterzugehen, und damit ginge, so Rumiz, der europäische Traum unter. Nach einem Besuch in Brüssel kehrt er enttäuscht zurück. Die EU-Politiker erscheinen ihm seelenlos, uninspiriert, mehr an ihrer Wiederwahl als wirklich an Europa interessiert. Doch woran, so fragt Rumiz, sollen wir uns denn noch klammern, wenn der europäische Traum erlischt? Während Populisten aller Art ihren jeweiligen Nationalstaat mit Erzählungen und Mythen aufladen, schafft es Europa offenbar nicht, seinen einzigartigen Mythos neu wiederzubeleben. Im Angesicht einer solchen Leerstelle schwindet rasch das Zugehörigkeitsgefühl. „Das Paradox ist“, so Rumiz, „dass sich heute die Völker der Union viel weniger gut kennen als früher, als es noch Grenzen gab.“

Rumiz Empörung über diese Entwicklung war ein ausschlaggebender Anlass für seine letzten beiden, auf Deutsch erschienenen Bücher Der unendliche Faden. Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas [2020] und Europa. Ein Gesang [2023]. Letzteres bezeichnet die Tageszeitung La Repubblica als „ein gewaltiges und visionäres Unterfangen.“

Mit Europa. Ein Gesang fordert Rumiz eindringlich dazu auf, ein menschliches Europa und den Mythos, auf dem es beruht, wiederzuentdecken. Das Buch basiert auf der Erfahrung einer Reise, die Rumiz auf Veranlassung eines befreundeten Gymnasiallehrers aus Wales, der maßlos enttäuscht über den Brexit war, an Bord eines hundert Jahre alten Segelschiffes im Mittelmeer unternommen hat, um den Mythos Europas bis zu seinen Wurzeln nachzuspüren. In dem Buch ist Europa ein syrisches Mädchen, das, traumatisiert durch Zwangsheirat, Krieg, Vergewaltigung, nach Europa flüchten will. Das Mädchen versteckt sich in Tyros an Bord des Segelschiffes, wird von der vierköpfigen Mannschaft entdeckt und verbindet mit ihren Erzählungen die Gegenwart Europas mit dem weit zurückliegenden Mythos, in dem Zeus eine phönizische Königstochter nach Griechenland entführt. Das alte Schiff durchsegelt ein Mittelmeer, dass als Massengrab und geprägt vom Massentourismus, dem Klimawandel und dem Krieg und Elend der Anrainerstaaten in seinem Wasser die Probleme der Gegenwart spiegelt.

»Es bleibt ein Buch, das man lesen sollte, vor allem in einer Zeit wie der heutigen, in der der eisige Wind aus dem Osten den stinkenden Atem des Krieges nach Europa bringt. Es bringt in unsere Länder, die durch eine Idee vereint sind, die auf der Insel Ventotene von [Altiero] Spinelli geboren wurde, andere Flüchtlinge, die genau wie das syrische Mädchen vor menschlicher Torheit fliehen. Denn allzu oft ist die Geschichte kein Lehrmeister.«
[Sabrina Miglio, www.criticaletteraria.org]


Basso Cannarsa

Paolo Rumiz