Fabio Stassi
stellt seinen Roman Ich töte wen ich will [2022] vor.
Gesprächsübersetzung: Annette Kopetzki / Deutsche Lesung: Thomas Streipert
(Lesungen und Gespräche am Nachmittag / Samstag, 26. August 2023 / Beginn: 15.30 Uhr)
Einem Essay für die Kulturzeitschrift Lettre International gab Fabio Stassi 2017 den Titel Blind sein, um zu schreiben. Hier spannt er den Bogen der blinden Dichter von Homer bis Jorge Luis Borges, nennt als Beispiele Autoren wie Max Frisch, Ernesto Sabato und José Saramago, die Blindheit zu ihrem Gegenstand gemacht haben, und äußert dann die Vermutung: »Die Literatur und die Dichtung haben seit eh und je diesen promiskuitiven Verkehr mit der Blindheit. Blindsein, so scheint es, ist die ideale und archetypische Voraussetzung für das Erzählen.«
Vermutlich war dieser Essay eine Vorbereitung von Stassi auf seinen im vergangenen Jahr erschienenen Roman Ich töte wen ich will. Auf dem Buchcover ist ein blinder Mann abgebildet. Aber von vorne: Hauptfigur des Romans ist der detektivisch veranlagte Sonderling Vince Corso, der in seiner Dachwohnung in Rom hilfesuchende Menschen mit Lektüreempfehlungen therapiert, also als Bibliotherapeut sein Geld verdient. Eines Tages findet er seine Wohnung verwüstet und seinen Hund vergiftet vor. In der Tierarztpraxis, in der er während der Behandlung seines Hundes wartet, sitzt er mit einem Blinden im Wartezimmer. Als dieser sein Buch in Blindenschrift im Wartezimmer vergisst, läuft Corso ihm hinterher und versucht, ihn in den Straßen Roms wiederzufinden, um ihm das Buch zurückzugeben. Dabei wird er Zeuge von grausamen Morden und gerät selbst in Verdacht, damit in Verbindung zu stehen. Fabio Stassi schildert dabei die Straßen und Winkel Roms sehr real. Unter diese reale Oberfläche bezieht der Autor aber geschickt mit unzähligen literarischen Verweisen die Vorstellungen des Lesers mit ein, macht ihn auf der Suche nach dem Blinden und der Lösung der Mordserie mit zur imaginären Hauptfigur des Romans und legt ihm folgenden Gedanken von Vince Corsos nahe: »War es mit ihm jetzt schon so weit, dass die Literatur die Wirklichkeit ersetzt?« Mit Blindheit sind nämlich nur derjenigen gestraft, der immer nur die Realität sehen wollen und nicht mehr darüber hinausdenken können.
Fabio Stassi wurde 1962 in Rom als Sohn sizilianischer Eltern geboren. Seine erste Sprache war der sizilianische Dialekt, mit dem er aufgewachsen ist, häufig bei seinen Großeltern. Seine Großmutter verbrachte ihre Kindheit in Buenos Aires und Montevideo, der Großvater wurde in Tunis geboren. Es ist seine multiple Identität, die ihn vor der »Misere einer einzigen Zugehörigkeit« schützt, was er sich auch von der Literatur wünscht.
»Aus diesem Grund glaube ich weiterhin auf naive Weise an die Utopie einer Literatur, in deren Zentrum noch immer die Menschenfigur steht, frei und kosmopolitisch, mit einem vielfältigen Blick und ohne Hierarchien. Eine Literatur wie ein Fluss inmitten einer Welt ohne Einschränkungen und ohne Grenzen.«
[Fabio Stassi, »Geographie des Blutes«, in: Lettre International, Heft 112]

Roberto Gandola